Wohn- und Geschäftshaus - Hauptplatz 21 - Dr. Stern

Erinnerungsort

Wohn- und Geschäftshaus - Hauptplatz 21 - Dr. Stern

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Wohn- und Geschäftshaus – Hauptplatz 21 Dr. Michael Stern & Marie Weil Am Hauptplatz 21 führte der am 11. Dezember 1897 in Wiener Neustadt geborene und später berühmte Rechtsanwalt Dr. Michael Stern gemeinsam mit seinem Schwager Dr. Heinrich Grünfeld bis 1938/39 eine Kanzlei. Seit 1926 war er Konzipient in der Kanzlei Grünfeld gewesen, hatte nach seiner Hochzeit mit der Nicht-Jüdin Edith Goldschmidt (*1900) ein paar Jahre in Wien gearbeitet und war dann wieder in die Kleinstadt zurückgekommen. 1931 wurde er in die Liste der Rechtsanwälte eingetragen. Die Dienste Dr. Sterns wurden, wegen seiner Erfolge bei der Verteidigung von lokalen Gemeindevertretern (wie den beiden Stadträten Alfred Altmann und Franz Schüller), in den 1930er Jahren geschätzt. Man sah ihn als „Spezialisten“ und „guten Fachmann“. Er übernahm in der Zeit des „Ständestaates“ auch die Strafverteidigung von Mitgliedern der illegalen Sturmabteilung (SA), die in der Verbotszeit des Hochverrates angeklagt waren. Während der Zeit des Nationalsozialismus war er in Wien eingeschränkt als Rechtsanwalt tätig, nämlich nunmehr als sogenannter „Rechtskonsulent für Nichtarier“, von denen es rund 30 an der Zahl gab. Stern vertrat Juden und Jüdinnen, auch solche aus Wiener Neustadt und der Region, bei der Regelung von vermögensrechtlichen Angelegenheiten, bei der Vorbereitung der Auswanderung, der Abwehr behördlicher Schikanen und Interventionen bei Dienststellen der Polizei und der Gestapo. Lokal bedurfte es seinerseits der Zusammenarbeit mit Mitgliedern der NSDAP-Kreisleitung und den schrumpfenden Mitgliedern der Kultusgemeinde. Nach dem Zweiten Weltkrieg tat er sich nach dessen Rückkehr aus dem Exil mit dem Wiener Neustädter Anwalt Dr. Fritz Aufricht zusammen und eröffnete mit diesem eine Kanzlei in der Seilerstätte 22 in Wien, wobei Stern für die Straffälle und Aufricht für die Wirtschaftsfälle zuständig schrieb. Durch mehrere spektakuläre Prozesse, über die in der Presse ausführlich berichtet wurde und in denen er Freisprüche erreichte, erhielt er den Ruf eines führenden Strafverteidigers in Wien und wurde als „Doyen der österreichischen Rechtsanwälte“ gefeiert. Seine Disziplin, sein hohes Arbeitspensum und sein genau geregelter Arbeitstag waren legendär. Dr. Michael Stern starb am 2. Dezember 1989 in Wien. Neben der Geschichte berühmter Menschen sollen hier aber auch andere Beispiele, nämlich von Menschen aus der einfachen Bevölkerung, erzählt werden: Im Haus, in dem Dr. Stern seine Anwaltskanzlei hatte, befand sich das Geschäft von Marie Weil. In einem fast vergessenen Buch einer jüdischen Emigrantin, die ihre Erinnerungen an ihre Heimatstadt niedergeschrieben hatte, hieß es: „Am Hauptplatz, wo die Ungargasse beginnt, im Eckhaus mit dem gotischen Laubengang, befindet sich die uralte Apotheke Mariahilf. Unter den Lauben, neben dem Hauseingang, war ein Schnittwarengeschäft, dessen Gewölbe so dunkel war, daß immer elektrisches Licht brannte. Es war ein sehr gutgehendes Geschäft mit mehreren Auslagen. Die Bauern der Umgebung kauften dort gern ihre bunten Stoffe, Leinen, Zubehör, weil alles besonders gut und haltbar war. Frau Marie, die Besitzerin, sah selbst wie vom Land aus, und niemand konnte glauben, daß ihre Religion jüdisch war. Als eine ihrer Kundinnen bemerkte: „Jetzt kem'ma gern, weil der kloane Jud' nemme da is'“, jagte sie die Kundin grob hinaus, weil der „kloane Jud'“ ihr verstorbener Mann war. Frau Marie war ein Original, ihre Religion war jüdisch, von ihren Eltern ererbt, so hielt sie die hohen Feiertage Neujahr und Jom Kippur, den Erinnerungstag an die Toten. Daneben ging sie häufig in die Kirche, so wie sie es – am Land aufgewachsen – mit den anderen Kindern getan hatte, zündete eine Kerze für die Muttergottes an und betete andächtig in der Neuklosterkirche. Sonntag ging sie gern zum Heurigen und das ganze Jahr sparte sie für eine große Reise. Ihr einziger Sohn war zwar ein erstklassiger Musiker und Sportler; für das Geschäft hatte er jedoch nichts übrig, um so mehr hatten die Mädchen der Stadt etwas für ihn übrig.“Quelle: Lisl Goldner, ... in dieser alten Stadt. Erzählungen von Lisl Goldner, Wiener Neustadt 1982, S. 11-12. Die zitierten Erinnerungen erfassen allerdings nicht die folgenden Tatsachen: Die seit 1918 verwitwete Marie Weil (*1871) war Geschäftsinhaberin der Firma „Brüder Weil“ und handelte mit Kurz- und Manufakturwaren, Bett-, Mode-, Wirkwaren und anderen Textilien am Hauptplatz 21. Sie war Eigentümerin des unweit gelegenen Hauses Adlergasse 9. Ihr Sohn Richard (*1903) war Musiker, Sportlehrer sowie Motorrad- und Automechaniker. Als Verkäufer (in der Sportartikel- und Textilbranche) hatte er auch einen Handelsbetrieb an der Wohnadresse in der Adlergasse angemeldet. Im Mai 1938 bemühte sich Richard Weil um eine Ausreise; damals war noch Grete Frais-Strobl (*1914) als seine „Braut“, also seine Verlobte, ausgewiesen. Doch nur zwei Monate später, am 12. Juli 1938, heiratete Richard die römisch-katholische Margarethe Reisz (die Tochter des Juden Albert Reisz) aus Winzendorf katholisch. Den Vermählten gelang aufgrund der mütterlichen Unterstützung 1939 die Ausreise nach Palästina. Das Schicksal von Marie Weil verlief anders: Sie wurde beim Novemberpogrom 1938 nur notdürftig bekleidet in die Wiener Neustädter Synagoge gebracht, dort inhaftiert und beraubt. Während ihrer Haft musste sie unter Drohungen einen Vertrag unterschreiben, mit dem sie ihr Haus um weniger als ein Viertel des tatsächlichen Wertes verkaufte. Sie wurde nach ein paar Tagen Haft in einem Autobus nach Wien abgeschoben. 1942 deportierte man Marie Weil nach Theresienstadt, von dort wurde sie im Mai 1944 in das Vernichtungslager Auschwitz überstellt, wo sie den Tod fand.   Quellen/Literatur: Archiv der IKG Wien Lisl Goldner, ... in dieser alten Stadt. Erzählungen von Lisl Goldner, Wiener Neustadt 1982. Peter Malina u. Anna Ofner, Die Akten der Klienten/Klientinnen der Kanzlei Dr. Michael Stern 1938-1945 (Werkstattgespräch des Zukunftsfonds am 11. Oktober 2011) Michael Stern, Es kann nicht immer Freispruch sein. Memoiren, Wien 1981. Werner Sulzgruber, Die jüdische Gemeinde Wiener Neustadt. Von ihren Anfängen bis zu ihrer Zerstörung, Wien 2005. Werner Sulzgruber, Das jüdische Wiener Neustadt. Geschichte und Zeugnisse jüdischen Lebens vom 13. bis ins 20. Jahrhundert, Wien 2010.Werner Sulzgruber, Lebenslinien. Jüdische Familien und ihre Schicksale. Eine biografische Reise in die Vergangenheit von Wiener Neustadt, Wien/Horn 2013.  

Wohn- und Geschäftshaus - Ungargasse 2 - Dr. Bauer

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Wohn- und Geschäftshaus – Hauptplatz 21

Dr. Michael Stern & Marie Weil

Am Hauptplatz 21 führte der am 11. Dezember 1897 in Wiener Neustadt geborene und später berühmte Rechtsanwalt Dr. Michael Stern gemeinsam mit seinem Schwager Dr. Heinrich Grünfeld bis 1938/39 eine Kanzlei. Seit 1926 war er Konzipient in der Kanzlei Grünfeld gewesen, hatte nach seiner Hochzeit mit der Nicht-Jüdin Edith Goldschmidt (*1900) ein paar Jahre in Wien gearbeitet und war dann wieder in die Kleinstadt zurückgekommen. 1931 wurde er in die Liste der Rechtsanwälte eingetragen.

Die Dienste Dr. Sterns wurden, wegen seiner Erfolge bei der Verteidigung von lokalen Gemeindevertretern (wie den beiden Stadträten Alfred Altmann und Franz Schüller), in den 1930er Jahren geschätzt. Man sah ihn als „Spezialisten“ und „guten Fachmann“. Er übernahm in der Zeit des „Ständestaates“ auch die Strafverteidigung von Mitgliedern der illegalen Sturmabteilung (SA), die in der Verbotszeit des Hochverrates angeklagt waren.

Während der Zeit des Nationalsozialismus war er in Wien eingeschränkt als Rechtsanwalt tätig, nämlich nunmehr als sogenannter „Rechtskonsulent für Nichtarier“, von denen es rund 30 an der Zahl gab. Stern vertrat Juden und Jüdinnen, auch solche aus Wiener Neustadt und der Region, bei der Regelung von vermögensrechtlichen Angelegenheiten, bei der Vorbereitung der Auswanderung, der Abwehr behördlicher Schikanen und Interventionen bei Dienststellen der Polizei und der Gestapo. Lokal bedurfte es seinerseits der Zusammenarbeit mit Mitgliedern der NSDAP-Kreisleitung und den schrumpfenden Mitgliedern der Kultusgemeinde.

Nach dem Zweiten Weltkrieg tat er sich nach dessen Rückkehr aus dem Exil mit dem Wiener Neustädter Anwalt Dr. Fritz Aufricht zusammen und eröffnete mit diesem eine Kanzlei in der Seilerstätte 22 in Wien, wobei Stern für die Straffälle und Aufricht für die Wirtschaftsfälle zuständig schrieb.

Durch mehrere spektakuläre Prozesse, über die in der Presse ausführlich berichtet wurde und in denen er Freisprüche erreichte, erhielt er den Ruf eines führenden Strafverteidigers in Wien und wurde als „Doyen der österreichischen Rechtsanwälte“ gefeiert. Seine Disziplin, sein hohes Arbeitspensum und sein genau geregelter Arbeitstag waren legendär.

Dr. Michael Stern starb am 2. Dezember 1989 in Wien.

Neben der Geschichte berühmter Menschen sollen hier aber auch andere Beispiele, nämlich von Menschen aus der einfachen Bevölkerung, erzählt werden:
Im Haus, in dem Dr. Stern seine Anwaltskanzlei hatte, befand sich das Geschäft von Marie Weil. In einem fast vergessenen Buch einer jüdischen Emigrantin, die ihre Erinnerungen an ihre Heimatstadt niedergeschrieben hatte, hieß es:

Am Hauptplatz, wo die Ungargasse beginnt, im Eckhaus mit dem gotischen Laubengang, befindet sich die uralte Apotheke Mariahilf. Unter den Lauben, neben dem Hauseingang, war ein Schnittwarengeschäft, dessen Gewölbe so dunkel war, daß immer elektrisches Licht brannte. Es war ein sehr gutgehendes Geschäft mit mehreren Auslagen. Die Bauern der Umgebung kauften dort gern ihre bunten Stoffe, Leinen, Zubehör, weil alles besonders gut und haltbar war. Frau Marie, die Besitzerin, sah selbst wie vom Land aus, und niemand konnte glauben, daß ihre Religion jüdisch war. Als eine ihrer Kundinnen bemerkte: „Jetzt kem'ma gern, weil der kloane Jud' nemme da is'“, jagte sie die Kundin grob hinaus, weil der „kloane Jud'“ ihr verstorbener Mann war. Frau Marie war ein Original, ihre Religion war jüdisch, von ihren Eltern ererbt, so hielt sie die hohen Feiertage Neujahr und Jom Kippur, den Erinnerungstag an die Toten. Daneben ging sie häufig in die Kirche, so wie sie es – am Land aufgewachsen – mit den anderen Kindern getan hatte, zündete eine Kerze für die Muttergottes an und betete andächtig in der Neuklosterkirche. Sonntag ging sie gern zum Heurigen und das ganze Jahr sparte sie für eine große Reise. Ihr einziger Sohn war zwar ein erstklassiger Musiker und Sportler; für das Geschäft hatte er jedoch nichts übrig, um so mehr hatten die Mädchen der Stadt etwas für ihn übrig.“
Quelle: Lisl Goldner, ... in dieser alten Stadt. Erzählungen von Lisl Goldner, Wiener Neustadt 1982, S. 11-12.

Die zitierten Erinnerungen erfassen allerdings nicht die folgenden Tatsachen: Die seit 1918 verwitwete Marie Weil (*1871) war Geschäftsinhaberin der Firma „Brüder Weil“ und handelte mit Kurz- und Manufakturwaren, Bett-, Mode-, Wirkwaren und anderen Textilien am Hauptplatz 21. Sie war Eigentümerin des unweit gelegenen Hauses Adlergasse 9. Ihr Sohn Richard (*1903) war Musiker, Sportlehrer sowie Motorrad- und Automechaniker. Als Verkäufer (in der Sportartikel- und Textilbranche) hatte er auch einen Handelsbetrieb an der Wohnadresse in der Adlergasse angemeldet. Im Mai 1938 bemühte sich Richard Weil um eine Ausreise; damals war noch Grete Frais-Strobl (*1914) als seine „Braut“, also seine Verlobte, ausgewiesen. Doch nur zwei Monate später, am 12. Juli 1938, heiratete Richard die römisch-katholische Margarethe Reisz (die Tochter des Juden Albert Reisz) aus Winzendorf katholisch. Den Vermählten gelang aufgrund der mütterlichen Unterstützung 1939 die Ausreise nach Palästina.

Das Schicksal von Marie Weil verlief anders: Sie wurde beim Novemberpogrom 1938 nur notdürftig bekleidet in die Wiener Neustädter Synagoge gebracht, dort inhaftiert und beraubt. Während ihrer Haft musste sie unter Drohungen einen Vertrag unterschreiben, mit dem sie ihr Haus um weniger als ein Viertel des tatsächlichen Wertes verkaufte. Sie wurde nach ein paar Tagen Haft in einem Autobus nach Wien abgeschoben. 1942 deportierte man Marie Weil nach Theresienstadt, von dort wurde sie im Mai 1944 in das Vernichtungslager Auschwitz überstellt, wo sie den Tod fand.

 

Quellen/Literatur:
Archiv der IKG Wien Lisl Goldner, ... in dieser alten Stadt. Erzählungen von Lisl Goldner, Wiener Neustadt 1982.
Peter Malina u. Anna Ofner, Die Akten der Klienten/Klientinnen der Kanzlei Dr. Michael Stern 1938-1945 (Werkstattgespräch des Zukunftsfonds am 11. Oktober 2011)
Michael Stern, Es kann nicht immer Freispruch sein. Memoiren, Wien 1981.
Werner Sulzgruber, Die jüdische Gemeinde Wiener Neustadt. Von ihren Anfängen bis zu ihrer Zerstörung, Wien 2005.
Werner Sulzgruber, Das jüdische Wiener Neustadt. Geschichte und Zeugnisse jüdischen Lebens vom 13. bis ins 20. Jahrhundert, Wien 2010.
Werner Sulzgruber, Lebenslinien. Jüdische Familien und ihre Schicksale. Eine biografische Reise in die Vergangenheit von Wiener Neustadt, Wien/Horn 2013.

 

Bilder

Gebäude Hauptplatz 21 (wieder aufgebaut)

Datierung: 2015 Autor: Foto Marcel Billaudet

Dr. Stern bei einem Besuch im Rathaus Wiener Neustadt zur Amtszeit von Bürgermeister Kraupa, o. J.

Datierung: o. J. Quelle: Stadtarchiv Wiener Neustadt Autor: unbekannt Zusatzinfo: Fotografie

Fotografie des östlichen Hauptplatzes mit der Ungargasse, o. J.

Gebäude Hauptplatz 21 mit dem Geschäftsschild „Brüder Weil“
Datierung: o. J. Quelle: Privatbesitz Groll Autor: unbekannt Zusatzinfo: Fotografie

Haus Hauptplatz 21, 1931

Erkennbar sind die Geschäftsschilder „Brüder Weil“ und „Rechtsanwalt Dr. H. Grünfeld Verteidiger Strafsachen 1. Stock".
Datierung: 1931 Quelle: Privatbesitz Heinrich Witetschka Autor: Verlag Kuderna Zusatzinfo: Postkarte